Konzertjahr 2016

Die Idee zum Programm der Konzertreihe 2016 entstand am Volkstrauertag des Jahres 2014. Eine Flötistin unseres Orchesters rief mich an und bat mich, den Fernseher einzuschalten, da ihre Tochter mit dem Chor ihrer Schule im Berliner Reichstag singe. Als ich das genannte Programm aufrief, sang der Chor der Justus-Liebig-Schule Gießen in sehr berührender Weise Joseph Rheinbergers Vertonung von Lukas 24, 29:

"Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget."

Das Evangelium Jesu bietet in seinem intensiven Lebensbezug zahlreiche Orientierungshilfen für das Handeln im Hier und Jetzt; in gleicher Weise entfaltet es jedoch seine Relevanz, wenn sich "der Tag [... des irdischen Menschenlebens] geneigt [hat]" und "der Abend [des leiblichen Todes]" gekommen ist. Andreas Gryphius (1616-1664), der wortgewaltige Verkündiger der Vergänglichkeit alles Irdischen und der Zerbrechlichkeit des Menschenlebens (vanitas mundi et fragilitas hominis) hat dem tiefreligiösen Zusammenhang von Abend, Tod und göttlichem Beistand nach dem Tod in einem seiner bekanntesten Sonette anschaulich Ausdruck verliehen:

Der schnelle Tag ist hin, die Nacht schwingt ihre Fah'n
Und führt die Sterne auf. Der Menschen müde Scharen
Verlassen Feld und Werk. Wo Tier‘ und Vögel waren,
Trau'rt jetzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit vertan!

Der Port[= der Hafen] naht mehr und mehr sich zu der Glieder Kahn.
[Gemeint ist, dass der ‚Hafen‘ des leiblichen Todes unaufhaltsam auf jeden Menschen zukommt, dessen Körper als kleines Schiff, eben als "der Glieder Kahn" bezeichnet wird.]
Gleich wie dies‘ Licht verfiel [also das Sonnenlicht des verflossenen Tages], so wird in wenig Jahren
Ich, du und was man hat und was man sieht hinfahren.
Dies Leben kommt mir vor wie eine Rennebahn.

Lass, höchster Gott, mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten,
Lass mich nicht Ach, nicht Pracht, nicht Lust, nicht Angst verleiten!

Dein ewig-heller Glanz sei vor und neben mir.

Die Hoffnung des Dichters, dass Gott dem Menschen auch dann noch beisteht, "wenn der letzte Tag [... seiner Zeit auf Erden] Abend [mit ihm ...] mach[-t]", gründet sich unter anderem auf die überzeugung des Apostels Paulus: "Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei." (Römer 14, 9) Die "eine, heilige, allgemeine und apostolische Kirche" Christi (vgl. das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel, das Christen aller Konfessionen eint) ist deswegen "allgemein", also universell und keinen Grenzen unterworfen, weil sie "Tote und Lebende" im Blick hat und die überzeugung vertritt, dass "auch den Toten das Evangelium verkündet [wird]" (Petrus 4,6). Nicht zuletzt die in 1. Korinther 15, 29 angesprochene Vikariatstaufe macht deutlich, dass es seit der Urkirche eine wichtige christliche Aufgabe ist, für Verstorbene einzutreten, die zu ihrer Erdenzeit das Evangelium Jesu nicht annehmen wollten oder auch gar nicht konnten wie etwa die riesige Zahl der Menschen, die in den Jahrhunderten und Jahrtausenden vor Christi Geburt gelebt haben.

Requiem in d-moll (KV 626) von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)

Vor diesem Hintergrund entfaltet das Requiem in d-moll (KV 626) von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) eine besondere geistliche Leuchtkraft. Der allzu frühe Tod im Dezember 1791 hinderte den Komponisten daran, die vermutlich erst im Oktober 1791 begonnenen Arbeiten an seinem letzten Werk zum Abschluss zu bringen.

Von Mozarts Kompositionsschüler Franz Xaver Süßmayr (1766-1803) ergänzt, markiert dieses Werk nicht nur den ergreifenden Schlusspunkt eines reichen kompositorischen Schaffens, sondern eine der facettenreichsten musikalischen Deutungen des Requiem-Textes, der die apokalyptisch-eschatologische Dimension des Evangeliums und das oben skizzierte Eintreten gläubiger Christen für Verstorbene aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Die Requiem-Verse greifen inhaltlich zahlreiche Bibelstellen auf, aber auch überzeugungen der Kirchenväter aus den ersten Jahrhunderten nach Christus. Der Franziskaner Thomas von Celano (um 1190-1260) ordnete und vervollkommnete die ihm vorliegenden Textelemente zu der Requiem-Fassung, die seit dem 14. Jahrhundert zu einem festen liturgischen Element geworden ist. Soweit dies im knappen Rahmen dieser Programmerläuterung möglich ist, soll nachstehend versucht werden, das Zusammenwirken von theologischen und kompositorischen Impulsen exemplarisch aufzuzeigen.

Introitus

Im Introitus spricht der Beter die Bitte aus: "Gib ihnen [den Verstorbenen] ewige Ruhe, Herr, und das dauerhafte Licht [deiner Gnade] leuchte ihnen." Hier ist der "ewig-helle [...] Glanz" angesprochen, von dem das lyrische Ich bei Gryphius umgeben sein möchte (s. o.), und Mozarts Musik entwickelt ihrerseits eine besondere Leuchtkraft: Nach den harmonisch sehr dichten (Harmoniewechsel fast mit jeder Zählzeit), im gemessenen Adagio himmlische Ruhe atmenden Takten 1-14 erklingt über acht Zählzeiten hinweg strahlendes F-Dur (Takte 15f.). Diese Tonart wirkt insofern umso ‚unverbrauchter‘ und luzider, als F-Dur in den vorangegangenen 14 d-moll-Takten - wiewohl als Tonikaparallele funktionsharmonisch durchaus naheliegend - bis auf eine kurze Achtel (Takt 10, Zählzeit 3) sorgfältig gemieden wurde. Da Mozart am Ende des Introitus den "Lux perpetua"-Vers als einzigen Vers des Eröffnungssatzes ein zweites Mal vertont, ist es nur zu konsequent, dass nicht die ‚düstere‘ Molltonika das letzte Wort hat: Infolge des Halbschlusses ertönt die Dominanttonart A-Dur, so dass auch der Schlusstakt gleichsam von "ewig-helle[-m] Glanz" (s. o.) umleuchtet wird.

Kyrie und Communio

In der virtuosen Kyrie-Fuge wird das Erbarmen Gottes und Christi mit einem Thema erfleht, das Georg Friedrich Händel in seinem "Messiah" bei der Vertonung der Jesaja-Worte "And with His stripes we are healed" (Jesaja 53, 5) verwendet hat. Wie vertraut Mozart mit diesem Oratorium Händels war und wie sehr er es geschätzt hat, geht aus der Tatsache hervor, dass er dem umfangreichen opus eine besondere Reverenz erwies: Er bearbeitete das Oratorium in voller Länge und instrumentierte die Musik Händels mit veränderter Orchesterbesetzung (keine Trompeten, Hinzunahme von Klarinetten etc.). Inwieweit der Verwendung des Händel-Jesaja-Zitats kompositorisch-theologisches Kalkül zugrunde liegt, muss offen bleiben. Fest steht jedoch, dass der ‚Dreiklang‘ Händel/Jesaja/Kyrie den bibelinteressierten Hörer aufhorchen lässt. "His stripes" sind der wohl intensivste Beweis göttlichen Erbarmens und damit die heilsgeschichtliche Grundlage jeder Kyrie-Anrufung, und "with His stripes we are healed", durch Christi Wunden ist das für den Menschen unauflösbare Spannungsfeld (vgl. die themenprägende, ‚spannungsreiche‘ verminderte Septime) zwischen Bösem und Gott überbrückt, so dass nach den Worten des Apostels Johannes "Gottes Kinder [... bei der Wiederkunft Christi vor dem Millenium und dem Jüngsten Gericht] ihm gleich sein [werden]" (1. Johannes 3, 2). Erst dann wird es außer Gott Vater, Sohn und Geist Heilige geben, weil sich die Prophetie aus Offenbarung 20,6erfüllt: "Selig ist der und heilig, der teilhat an der ersten Auferstehung." Vor diesem Hintergrund erweist sich das wohl nicht zuletzt auch der Zeitnot und Arbeitsökonomie geschuldete Handeln Süßmayrs als ‚Glücksgriff‘: Indem Mozarts Schüler in der das Requiem abschließenden Communio den Introitus ab Takt 14 sowie die Kyrie-Fuge fast tongleich wiederholt, wird das Kyrie-Thema zum ‚Cum sanctis tuis-Thema‘,und mit der quasi reprisenartigen Symmetrie des gesamten Requiems weitet sich der oben angesprochene ‚Dreiklang‘ zu einem noch gewichtigeren ‚Vierklang‘: Händel/Jesaja/"stripes" als heilsgeschichtliche Grundlage jedes Kyrie-Rufes/"stripes" als Brücke zur finalen Heiligkeit der Kinder Gottes.

Dies irae

Das Dies irae führt vor dem ‚inneren Auge‘ des Hörers eine Szenerie herauf, die Apostel Petrus beschreibt als den "Tag [...], an dem die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen werden" (2. Petrus 3, 12). Interessanterweise benennt der Requiem-Text nicht die neutestamentlichen Zeugnisse dieses "dies irae", sondern mit den Worten "teste David cum Sibylla" das alte Testament und das Heidentum (!). Daniel Eichhorn kommentiert das mit den Worten: "Die Sybillen waren bekanntlich in der griechischen und römischen Antike Wahrsagerinnen, die im Zustand der Trance ihre mehr oder weniger brauchbaren Mirakelsprüche äußerten. Indem die [Dies irae-]Sequenz ausdrücklich auf die heidnische Prophetin hinweist, zeigt sie eine geistige Weite, die für manchen erstaunlich wirken mag. Sie anerkennt, was schon Kirchenväter der ersten Jahrhunderte wussten: daß sich Samenkörner der Wahrheit auch in heidnischen Weissagungen finden können. Auch das Heidentum ahnte, trotz all seiner Irrtümer, daß diese Welt in einer kosmischen Katastrophe enden werde." (P. Daniel Eichhorn FSSP: Geistliche Impulse aus der Sequenz "Dies irae", S. 9, in: Informationsblatt der Priesterbruderschaft St. Petrus, November 2013) Dieser Brückenschlag zu jüdischen und heidnischen Traditionen verweist vor allem auf Augustin und das frühchristliche Bemühen, die Mission unter Juden und Heiden durch die Betonung der vorhandenen Gemeinsamkeiten zu erleichtern. Mozarts Musik ist in ihrer Sinnenhaftigkeit über alle konfessionellen Grenzen hinweg unmittelbar verständlich. Die zahlreichen, in sich selbst ‚vibrierenden‘ Tonrepetitionen der Violinen und Bratschen sowie die den "tremor [...] futurus" nachzeichnenden, geradezu resistenten chromatischen Wechselnoten der Bässe (Takte 41, 45 und 49), die schließlich auf die übrigen Stimmen übergreifen (Takt 51): Alles das macht überdeutlich, wie zunächst einzelne und dann viele Menschen - von ihrem Gewissen überführt - dem Jüngsten Tag und dem Richterspruch Christi ‚entgegenzittern‘.

Tuba mirum und Rex tremendae majestatis

Von gravitätischen Posaunen-Soli geprägt, beschwört der Tuba mirum-Abschnitt den Augenblick herauf, in dem während des Jüngsten Gerichts "Bücher [...] aufgetan [werden]" (Offenbarung 20, 12ff.). Der steigenden Dramatik des Geschehens entsprechend, ist der Auftritt der Solisten in der Reihenfolge Bass-Tenor-Alt-Sopran gestaffelt. Mit dem Sopran-Einsatz vollzieht sich auf literarischer Ebene eine entscheidende änderung: Während bislang ein Erzähler in objektiver Konsequenz die eschatologischen Geschehnisse ankündigt, kommt nunmehr die subjektive Sicht nicht eines Ich - Erzählers, sondern eines ‚Ich - Beters‘ ins Spiel, der sich mit der Demut des Zöllners im Tempel (Lukas 18, 9-14) die Frage stellt: "Quid sum miser tunc dicturus?" ("Was soll [und kann] ich Armer [dem alles sehenden Richter zu meiner Rechtfertigung] sagen?" Takte 40ff.) Dass dieser ‚Ich-Beter‘ eine große Zahl von Menschen repräsentiert, wird im Rex tremendae majestatis-Abschnitt deutlich, wenn nicht mehr die Sopran-Solistin, sondern das Tutti von Chor und Orchester den "König der alles erschütternden Gewalt" anruft. Letztere wird symbolisiert durch die scharfen Punktierungen, die die Kirche, in der die Musik erklingt, akustisch förmlich in ihren Grundfesten erbeben lassen. So als ob die enorme Differenz zwischen göttlicher Majestät und der Limitierung des sündigen Menschen auch in den Proportionen der Musik hörbar werden sollte, misst der Forte-Abschnitt zur Verklanglichung göttlicher Macht 17 Takte, wohingegen der Piano-Abschnitt mit der "Salva me"-Vergebungsbitte auf fünf Takte beschränkt ist und mit seiner abwärts gerichteten Motivik auch en détail an den Zöllner im Tempel erinnert, der "die Augen nicht [...] zum Himmel [...] aufheben [will]" (Lukas 18, 13), sondern vor Scham und Reue nachunten blickt.

Recordare

Das Recordare leiht einem anderen Beter seine Stimme. Während der Beter des Tuba mirum und des Rex tremaendae um Gnade bittet, wenn die "Bücher [... zum Jüngsten Gericht] aufgetan [werden]" (s. o.), hofft der Beter des Recordare auf die Milde Jesu Christi "ante diem rationis" (Takte 60-68), also vor dem Tag des Gerichts. Diese Hoffnung ist theologisch sehr bedeutsam und gründet sich auf die Zusage Jesu, dass es Menschen geben wird, die "nicht in das Gericht [kommen werden]" (Johannes 5, 24), weil sie "zur Auferstehung des Lebens", nicht aber zur "Auferstehung des Gerichts" berufen sind (Johannes 5, 29). Vor diesem Hintergrund wird die dreistufige ‚Auferstehungschronologie‘ des Apostels Paulus laut 1. Korinther 15, 22-24 verständlich: "Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden. Ein jeder aber in seiner Ordnung: als Erstling Christus; danach, wenn er kommen wird, die, die Christus angehören; danach das Ende [, das Jüngste Gericht], wenn er das Reich Gott, dem Vater, übergeben wird [...]" Die Hoffnung, vor dem Jüngsten Gericht Gnade zu finden und durch die Teilhabe an der "Auferstehung des Lebens" (der oben bereits zitierten, zur Seligkeit und Heiligkeit erhebenden Ersten Auferstehung laut Offenbarung 20, 6) der "Auferstehung des Gerichts" enthoben zu sein, durchzieht die Schriften des Neuen Testaments wie ein Leitmotiv. Die Offenbarung verwendet für Menschen, die mit dem Beter des Recordare um Gnade "ante dies rationis" bitten und Erhörung finden, die Metapher der "Braut". Die Braut Christi ist fokussiert auf die zweite Stufe der paulinischen Auferstehungsdarstellung (s. o.), also auf den Augenblick, "wenn er [,Christus, zur Auferstehung des Lebens] kommen wird", und bekennt das in aller Deutlichkeit: "Der Geist und die Braut sprechen: Komm!" (Offenbarung 22, 17) - Angesichts der Innigkeit und der liebevoll ‚drängenden‘ Intensität der Verse wirkt das Recordare wie ein bräutliches Gebet, und auch die Musik kann mit den Attributen "innig" und emotional-‚drängend‘ gut beschrieben werden. Innig und kammermusikalisch intim ist die Reduzierung des Vokalparts auf die vier Solisten, innig und wie ein Gespräch zweier Liebender klanglich diskret ist die Dynamik (115 der 130 Takte sind im piano gehalten). ‚Drängend‘ und zart appellativ wirkt das von den Celli in Takt1eingeführte instrumentale Kernmotiv, das während des gesamten Quartetts geradezu omnipräsent ist und in seiner rhythmisch augmentierten Form sogar in die Solopartien hineinwirkt (Takte 83-92). Es setzt schwebend und leicht auf der Zählzeit 1u ein und drängt mit dem Anapäst zu Beginn und den beiden sich anschließenden Jamben kinetisch unablässig nach vorn. Da es von allen Streichern und Holzbläsern aufgegriffen wird, erklingt es in allen Tonlagen und verstärkt die Assoziation einer Braut, die mit modulierender Sprechintonation verschiedene ‚Töne anschlägt‘ und ihren Bräutigam mit einer Reihe von Bitten liebevoll ‚bedrängt‘. - Die Tonart des Recordare ist F-Dur, eine Tonart also, in der keiner der vorherigen Requiem-Teile stand und die somit genauso ‚neu und unverbraucht‘ im Raum steht wie das F-Dur der "Lux perpetua"-Takte im Introitus (s. o.). Die Kompositionsteile, in denen der Beter um Gnade im Jüngsten Gericht bittet (Tuba mirum und Rex tremendae), stehen in B-Dur und dessen Paralleltonart g-moll. Man mag kaum an einen Zufall glauben, wenn das Recordare mit seiner Bitte um Gnade vor dem Jüngsten Gericht die Tonart verwendet, die im Quintenzirkel vor B-Dur und g-moll verzeichnet ist.

Confutatis

Im Confutatis erhebt wieder der Beter des Tuba mirum und des Rex tremendae seine Stimme. Erneut werden die Hörerinnen und Hörer im Geist an den Jüngsten Tag versetzt, wobei Text und Musik wie ein Klang gewordenes Monument der paulinischen Dichotomie laut Römer 11, 22 wirken: "Darum sieh die Güte und den Ernst Gottes [...]" Der "ernst[-e]" Kompositionsblock schlägt ganz im Sinne Augustins (s. o.) eine Brücke zu jüdischen Quellen. Die Worte "Confutatis maledictis flammis acribus addictis" (Wenn die Gottlosen brennendes Stroh sein werden) erinnern an Zephanja 1, 18 ("Am Tage des Zorns des Herrn [... soll] das ganze Land [...] durch das Feuer seines Grimms verzehrt werden [...]") und Maleachi 3, 19 ("Denn siehe, es kommt ein Tag, der brennen soll wie ein Ofen. Da werden alle Verächter und Gottlosen Stroh sein, und der kommende Tag wird sie anzünden, spricht der Herr Zebaoth, und er wird ihnen weder Wurzel noch Zweig lassen.") Das Unisono aller Streicher ‚züngelt‘ wie ein Gegenentwurf des anapästisch-jambischen Recordare-Kernmotivs durch den Raum: Mit unerbittlicher Strenge wechseln Daktylen und Trochäen einander ab; die Musik ist nicht mehr innig und intim, sondern macht im forte spürbar, dass hier unüberhörbar und vor allem unwiderruflich Urteile gefällt werden. Das Klangbild ist düster und bedrohlich (nur Männerstimmen, selbst in den Geigen nur tiefste Lage), an die Stelle des ‚entrückt‘ schwebenden Recordare tritt der Eindruck, dass jede Zählzeit einem Hammerschlag des Richters gleicht und absoluten Respekt gebietet. Ganz anders "die Güte [...] Gottes" (s. o.); wenn der Beter darum bittet, am Jüngsten Tag "mit den Begnadigten gerufen zu werden" (Voca me cum benedictis), schweigen die Tenöre und Bässe sowie alle Instrumente außer den Geigen, so dass alles Düstere von der Musik abfällt. Der Frauenchor führt die Altstimmen sehr oft an die obere Registergrenze (Takte 7-10, 19f.), das durchgehende piano erinnert an die "Salva me"-Bitten des Rex tremendae (s. o.). Der dadurch entstehende zarte und lichte Klangeindruck wirkt besonders anrührend in den Takten 7-10, wenn die Frauenstimmen und Violinen in dem von Vorzeichen ‚reinen‘ C-Dur ihre ausdrucksvollen "sotto voce"-Linien (Takt 7) entfalten und die duch "die Güte [...] Gottes" (s. o.) ‚rein‘ gemachte Schar der Begnadigten musikalisch heraufbeschwören.

Lacrimosa

Die Verse des Lacrimosa laden die Hörerinnen und Hörer dazu ein, einen erneuten Wechsel auf literarischer Ebene mitzuvollziehen, welcher zum Introitus zurückführt. Das lyrische Ich der vorangegangenen Requiem-Teile tritt zurück und macht der ‚Er-Perspektive‘ eines Sprechers Platz, der zunächst die "Tränen" des Tages vor Augen führt, wenn "der sündige Mensch zum Gericht ersteht" ("[...] resurget ex favilla judicandus homo reus"), um dann wie im Introitus fürbittend für die zum Jüngsten Gericht gerufenen Menschen einzutreten: "Pie Jesu Domine, dona eis requiem." (Milder Jesus, du Herrscher, gib ihnen Ruhe.) Mozarts Niederschrift des Satzes endet mit Takt8und deutet den Text schon mit den klagend-‚tränenreichen‘ kleinen Sexten im Sopran (Takte 3f.), mit den Seufzer-Motiven der Geigen, vor allem aber im Sopran der Takte 5-8 plastisch aus: Die dorische Tonleiter auf wärts erfährt ab dem d‘‘ eine chromatisch auf steigende Fortsetzung, bis mit dem a‘‘ die melodische Spannung nicht mehr zu überbieten ist oder - um es mit den Worten der Requiem-Verse zu sagen - bis auch der letzte in Sünde gefallene (vgl. den Sopran-Oktav-‚fall‘ bei dem Adjektiv "reus") Mensch zum Jüngsten Gericht auf erstanden ist. - Ulrich Leisinger weist im Blick auf das Lacrimosa zu Recht darauf hin, dass Mozart das Requiem "nicht von Anfang bis Ende durchgearbeitet, sondern sich manchmal mit den Anfangstakten eines Satzes [begnügt hat], die die musikalische Essenz enthielten (Vorwort zur Carus-Ausgabe, S. IV). Diese Essenz - so Abbé Maximilian Stadler - war dermaßen aussagekräftig, "dass jeder ‚Amanuensis‘ die Ausarbeitung übernehmen konnte" (ebenda, S. IV). Wie essentiell und inspirierend die achttaktige ‚Lacrimosa-Essenz‘ Mozarts für seinen "Amanuensis" Süßmayr war, zeigt sich besonders in den Takten 24-28; die stringente melodische ‚Auferstehungsszenerie‘ der Takte 5-8 findet ihre symmetrische Spiegelung, wenn sich die im Gericht Begnadigten in die Ruhe und Güte Gottes ‚fallen lassen‘ können: Vom Bass initiiert (Takt 24), übernimmt der Sopran eine von d‘‘ bis d‘ fallende äolische Tonleiter (Takte 24-26), die über dem ‚ruhenden‘ Orgelpunkt auf A mit einer Kadenz in harmonischem d-moll abgeschlossen wird (Takte 26-28).

Domine Jesu und Hostias

Durch die gemeinsame "Quam olim Abrahae promisisti"-Schlussfuge eng miteinander verknüpft ("Wie du es einst Abraham verheißen hast"; wiederum ganz im Sinne von Augustin ein Brückenschlag zu jüdischen Traditionen), wachsen Domine Jesu und Hostias als untrennbare Einheiten zum Offertorium zusammen. Auf literarischer Ebene wird gewissermaßen ein ‚Schlussbaustein‘ gesetzt, bevor mit dem Sanctus und Benedictus wieder Textelemente vertont werden, die nicht nur im Requiem, sondern auch in der üblichen Messe verwendet werden. Vor dem Offertorium sind drei literarische Perspektiven erkennbar geworden:

  • Das erste lyrische Ich erbittet für sich selbst Gnade im Jüngsten Gericht (Tuba mirum, Rex tremendae, Confutatis),
  • ein zweites lyrisches Ich erbittet für sich selbst Gnade vor dem Jüngsten Gericht (Recordare),
  • ein Beter tritt fürbittend für Verstorbene ein und bittet um Gnade im Jüngsten Gericht (Introitus, Lacrimosa)
  • Die Fürbitten, die der Beter im Offertorium zu Gott emporschickt, lassen sich nicht auf das Jüngste Gericht beziehen. Das Böse wird nach dem Millenium und vor dem Jüngsten Gericht gebunden (vgl. Offenbarung 20, 7-10). Da "der Teufel [...] in den Pfuhl von Feuer und Schwefel [geworfen wurde] (Offenbarung 20, 10), kann er folgerichtig nicht mehr als "Widersacher [Gottes ...] umher[-gehen] wie ein brüllender Löwe und such[-en], wen er verschlinge (1. Petrus 5, 8). "Libera eas de ore leonis ne absorbeat eas tartarus" ("Befreie sie [die Verstorbenen] aus dem Rachen des Löwen, damit das Böse sie nicht verschlingt"): Diese Bitte des Beters (Domine Jesu, Takte 15-22) richtet den Blick wie das Recordare auf die Zeit "ante dies rationis" (s. o.) und ergänzt somit die oben genannte Trias der literarischen Perspektiven um eine vierte:

  • Ein Beter tritt fürbittend für Verstorbene ein und bittet um Gnade vor dem Jüngsten Gericht.

So wie es in der ‚Ich-Perspektive‘ zwei Zeitebenen gibt, tritt auch in den Fürbitten eine ‚Dichotomisierung der Zeit‘ zu Tage, so dass insgesamt ein ‚lyrisches Quadrivium‘ mit doppelter Symmetrie entsteht. Fürbitten für Verstorbene im Blick auf die Zeit "ante dies rationis" (also auch im Blick auf das Hier und Heute) sind ein wichtiges Element der christlichen Lehre über "die letzten Dinge"; da Christus "will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen" (1. Timotheus 2, 4; Hervorhebung von mir), da er Herr und Heiland für "Tote und Lebende" ist (s. o.), steht die Tür zur Kirche Christi und ihren Sakramenten allen ‚Menschen guten Willens‘ offen, unabhängig davon, ob sie bereits verstorben sind oder noch auf der Erde leben. Auch Verstorbene können also durch Fürbitten, Wort und Sakrament "aus dem Rachen des Löwen [befreit werden]" (s. o.), damit sie als "Tote in Christus" teilhaben an der Ersten Auferstehung, der "Auferstehung zum Leben" (vgl. 1. Thessalonicher 4, 13-18). - Vor diesem Hintergrund entfaltet die Musik des Offertoriums eine geradezu befreiende Wirkung: Zunächst wird die ganze ‚Drohkulisse des Bösen‘ kompositorisch aufgebaut (‚wütend‘-erregte Streicherunisoni in den Takten 21ff. des Domine Jesu), ‚Abgründe‘ tun sich auf (permanente, zum Teil große Septsprünge abwärts bei der Darstellung des potentiellen Falles in die Finsternis; vgl. den Chorsatz bei der Vertonung der Verse "ne absorbeat eas tartarus, ne cadant in obscurum", Takte 21-28 des Domine Jesu), der "Rachen des Löwen" ist weit geöffnet (Oktavtremoli aller Streicher in den Takten 17 und 20 des Domine Jesu); doch so unüberhörbar sich die Mächte des Bösen auch gebärden, sie müssen sich der Allmacht dessen beugen, der bewirken kann, "das sie [die Verstorbenen] vom Tod zum Leben hindurchdringen" (Hostias, Takte 47-54). "Eas [...] de morte transire ad vitam" - dieser accusativus cum infinitivo ist der Kernsatz des Hostias, welches als einziger Satz des Requiems in Es-Dur steht und in heiterer Gelassenheit das souveräne Heilshandeln Gottes ("fac"; Takt 46) verkündet.

Sanctus, Benedictus, Agnus Dei und Communio

Wie ein Siegel göttlicher Verlässlichkeit und Treue schließt die "Quam olim Abrahae promisisti"-Fuge beide Teile des Offertoriums ab. Nicht nur der strahlende G-Dur-Schluss verleiht wie das Es-Dur des "Hostias" der Freude Ausdruck, dass Gott aus dem Tod ins Leben führen will oder - um es mit Gryphius zu sagen - "aus dem Tal der Finsternis [herausreißt]" (s.o.). Es ist vor allem das Thema selbst, das federnd leicht und doch mit unwiderstehlicher Kraft Böses und Finsteres überwindet. Das Kettungsintervall der beiden Thementeile ist stets die verminderte Quinte, jener ‚dissonanzträchtige‘ Klang also, der seit Jahrhunderten als "diabolus in musica" bekannt ist. Dieser "Teufel in der Musik" hat hier jedoch überhaupt keine Möglichkeit, Furcht und Schrecken zu verbreiten, weil er nach dem ‚jambischen Anlauf‘ der sechs Auftakttöne mit federnder Leichtigkeit ‚übersprungen‘ wird (Jambus - der "Springer") und weil der gewichtige doppelte Trochäus des "promisisti" spürbar macht, dass die Kraft göttlicher Heilszusagen schon seit Abrahams Tagen schwerer wiegt als alle temporäre Gewalt des Bösen, welches in der kontextualen Einbettung dieser Fuge folgerichtig nur als ‚musikalische Durchgangsstation‘ erklingen darf.

Inwieweit Süßmayr bei der Niederschrift von Sanctus, Benedictus und Agnus Dei auf Vorlagen Mozarts zurückgreifen konnte, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit klären. Natürlich ist der Chorsatz des Sanctus kompositorisch ungleich qualitätsvoller als die Instrumentierung, so dass sich die Vermutung aufdrängt, dass Süßmayr über eine Chorskizze seines Lehrers verfügte (vgl. die Anmerkungen von Ulrich Leisinger im Vorwort der Carus-Ausgabe, S. V). Natürlich ist das Benedictus ungleich länger als die übrigen Ergänzungen Süßmayrs (vgl. besonders die kurze, das Sanctus und das Benedictus beschließende Osanna-Fuge, welche zwar nicht - wie Leisinger fälschlich feststellt - "simpel wiederhol[-t]" und nur von D-Dur nach B-Dur transponiert wird (ebenda, S. V), aber doch trotz erkennbarer Modifikationen in der Themenabfolge und Kontrapunktik einen etwas ‚holzschnittartig-groben‘ Eindruck hinterlässt). Es stellt sich also auch im Hinblick auf das 53 Takte lang in schönster Melodik schwelgende Benedictus die Frage, ob Süßmayr hier nicht doch auf eine Skizze Mozarts zurückgreifen konnte (zum Vergleich: die sich anschließende Osanna-Fuge misst gerade einmal 23 Takte). Wie dem auch sei, es bleibt Süßmayrs Verdienst, dass er - und hier ist Leisinger ohne Einschränkung zuzustimmen - eine "handwerklich solide Ergänzung" (ebenda, S. VI) des Mozartschen Fragments geschaffen hat und vor allem durch den oben bereits benannten Wiederaufgriff des Werkanfangs in der abschließenden Communio eine reprisenartige Symmetrie in der Makrostruktur des Requiems herstellte.

Programm 2016

  • Carl Stein (1824-1902): Bis hierher hat der Herr geholfen
  • Johann Sebastian Bach (1685-1750): O Ewigkeit, du Donnerwort
  • Adolf Conrad (1871-1948): Was ich tief im Herzen
  • Joseph Rheinberger(1839-1901): Herr bleib' bei uns, denn es will Abend werden
  • Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791): Requiem in d-moll (KV 626)