Konzertjahr 2018/2019

Das Oratorium „Christus am Ölberge“ – Ludwig van Beethoven als „Priester und Prophet“

Leonard Bernstein hat einmal über Beethoven gesagt: „Mit Beethoven hatte die Revolution der Romantik bereits begonnen und einen neuen Künstler, den Künstler als Priester und Propheten, hervorgebracht.“ Dieses Zitat entfaltet auch und gerade im Hinblick auf Beethovens einziges Oratorium „Christus am Ölberge“ (op. 85) eine besondere Leuchtkraft. Wenn man versucht, die Appositionen „Priester“ und „Prophet“ im biblischen Kontext zu erläutern, so stößt man unwillkürlich auf Maleachi, der (als Prophet!) ein zentrales Aufgabenfeld des alt- und neutestamentlichen Priesters benennt: „Denn des Priesters Lippen sollen die Lehre vollständig erhalten, dass man aus seinem Munde das Gesetz suche; denn er ist ein Engel des Herrn Zebaoth.“ (Maleachi 2, 7) Für die Auswirkungen des Prophezeiens, also des Offenbar-Machens von zuvor Verborgenem, verwendet der große Prophet Jesaja eine breit angelegte comparatio: „Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.“ (Jesaja 55, 10 und 11) Die im Folgenden entwickelten Gedanken versuchen deutlich zu machen, dass es dem (im Sinne Bernsteins) „priester[-lichen]“ und „prophet[-ischen]“ Künstler Beethoven in seinem Oratorium gelingt, in prophetisch-zukunftsweisender Weise „die Lehre“, das Evangelium musikalisch zu intensivieren und dabei immaterielles „Brot zu essen [zu geben]“, also geistlich-kompositorische Anregungen zu vermitteln, aus denen sich die spätere Rezeption und künstlerische Produktion speisen.

Im Januar 1803 wurde Beethoven zum Hauskomponisten des Theaters an der Wien ernannt. Bereits wenige Wochen später, am 5. April 1803, fand am Dienstag der Karwoche die Uraufführung des Oratoriums statt. Im Rahmen der Uraufführung wurden auch die Symphonien Nr. 1 und 2 sowie das 3. Klavierkonzert des Komponisten zu Gehör gebracht. Der im Dezember 1802 gerade einmal 32 Jahre alt gewordene Beethoven hatte im Vorfeld der Uraufführung weder sich selbst noch die Ausführenden geschont: „In [nur] 14 tägen“ brachte er nach eigenem Bekunden den umfangreichen Notentext zu Papier, und auch die Ressourcen des Orchesters wurden auf eine harte Probe gestellt, denn noch am Morgen des Premierentages (!) fiel Beethovens Schüler Ferdinand Ries die undankbare Aufgabe zu, dem probenden Orchester die Posaunenstimmen zu überbringen, die der Komponist gerade noch rechtzeitig in nächtlicher Arbeit niedergeschrieben hatte. Um die völlig erschöpften (und von Beethovens Arbeitsweise sicherlich nicht gerade begeisterten!) Orchestermusiker wenigstens etwas zu besänftigen, versorgte der bei den Proben anwesende Fürst Karl Lichnowsky das Orchester mit Butterbroten, kaltem Fleisch und Wein . Zu dieser in mehrfacher Hinsicht ‚mit heißer Nadel gestrickten‘ Uraufführung merkt Holger Schneider an: „Leider ist [… die erste] Niederschrift des Werkes durch den 33jährigen Beethoven im Frühjahr 1803 [sic! Beethoven ist im Frühjahr 1803 32 Jahre alt, s. o.] nicht mehr vollständig zu rekonstruieren – die ursprüngliche Fassung ist nur fragmentarisch in Form von Skizzen und einzelnen Blättern und Bogen überliefert.“ Erhalten geblieben ist die von Beethoven für eine Aufführung am 27. März 1804 beträchtlich überarbeitete Fassung des Oratoriums, welche dann im Oktober 1811 musikalisch weitestgehend unverändert bei Breitkopf & Härtel in Leipzig gedruckt wurde. So unstrittig die musikalische Faktur des Werkes also offensichtlich war, als so umstritten stellt sich die Textierung der Komposition dar. Während Beethoven nachdrücklich darauf bestand, dass die von Franz Xaver Huber (1760-1810) verfasste Textgrundlage aus den Jahren 1803/1804 Verwendung fand, favorisierte der Verlag die von Christian Schreiber (1781-1857) ohne Wissen und Einverständnis Beethovens besorgte Textüberarbeitung. Aufgrund der (vorsichtig formuliert) stark ausgeprägten Beharrungskräfte sowohl auf Seiten Beethovens als auch auf Seiten des Verlages wurde die Auseinandersetzung um den Text mit harten Bandagen geführt. Dies ist insofern verwunderlich, als Beethoven durchaus zugab, dass der Text Hubers Mängel aufweist. Es stellt sich also die Frage, warum der Komponist so viel Zeit und Energie dafür aufwendete, einen von ihm selbst in Teilen als defizitär empfundenen Text zu verteidigen. Trotz und Streitlust spielen sicherlich eine gewichtige Rolle; Holger Schneiders pars pro toto „Nun waren [… Beethoven und] die von Breitkopf rechte Dickschädel […]“ trifft die Physiognomie und die charakterliche Disposition Beethovens recht genau. Gleichwohl ist der Verweis auf Starrköpfigkeit allein nicht hinreichend. Beethoven selbst gibt einen wichtigen Hinweis auf weitere Gründe in dem von Schneider ebenfalls zitierten Brief an die Verleger, in dem er den Rezensenten vorwirft, dass sie „am unglimpflichsten mit Kunstwerken umgehen und durch ihre Ungeschicktheit auch müßen, wofür sie nicht gleich den gewöhnlichen Maßstab, wie der schuster seinen leisten, finden“.

Wie sieht der von zahlreichen zeitgenössischen und auch späteren Rezensenten vehement kritisierte und nach Beethovens Meinung „[ver-]unglimpft[-e]“ Text Hubers aus? Wo fällt er aus dem „gewöhnlichen Maßstab, [… dem] leisten“ mancher Leserinnen und Leser heraus? Ist das Herausfallen aus dem „gewöhnlichen Maßstab“ ein Indiz dafür, dass Beethoven und sein Librettist im Sinne des Bernsteinschen Eingangszitats Künstler sind, die „als Priester und Propheten“ (s. o.) bezeichnet werden können?

Die Textvorlage von Franz Xaver Huber

„Der Text von Franz Xaver Huber ist ausgesprochen simpel und überschreitet an vielen Stellen die Grenze zum Lächerlichen.“ Sätze wie diese Wertung von Judith Roßbach sind als Geschmacksurteil legitim, entziehen sich aber einem sachlichen Diskurs. „Wesentliche Passagen sind regelrecht ausgespart: Es gibt keine Ermahnung der immer wieder einschlafenden Jünger und keinen Christus, der sich zum Gebet zurückzieht und darum fleht, daß der Kelch an ihm vorübergehen möge.“ Angesichts solcher Rezensionen reibt man sich verdutzt die Augen und möchte die Verfasserin fragen, ob sie die Takte 158-244 der Nr. 1 des Oratoriums nicht gelesen bzw. gehört hat, in denen das von der Autorin vermisste Flehen Jesu sechsmal (!) erklingt, literarisch durch die geminatio des „fleh[-enden]“ Imperativs „nimm“ (Takte 158f. und 226-228) unterstrichen und musikalisch durch die beeindruckende „al piacere della voce“-Kadenz zusätzlich hervorgehoben (Takt 239). Dennoch weist das Zitat von Kraus in eine richtige Richtung. Es gibt im Text unstrittige Leerstellen, die Anja Mühlenweg mit erfreulicher Sachlichkeit benennt: „[Der] Text ist insofern problematisch, als er eigenartigerweise aus theologischer Sicht zentrale Punkte der als Vorlage dienenden Bibelstelle nicht berücksichtigt: Jesu […] Verlassenheit und Einsamkeit, als er die Jünger schlafend antrifft, zudem den Verrat durch Judas sowie seine Gefangennahme.“

Diese Leerstellen zeigen ohne Zweifel, dass der von Beethoven so hartnäckig verteidigte Text Hubers dem „gewöhnlichen Maßstab“ nicht gerecht wird, den man an eine Thematisierung der Geschehnisse im Garten Gethsemane anlegen kann. Ebenso unzweifelhaft ist es aber auch, dass es im Rahmen einer paraphrasierenden Nachdichtung der künstlerischen Freiheit des Autors anheimgestellt ist, ob er hinlänglich bekannte Handlungselemente aufgreift oder aber ausklammert, um Raum für individuelle Akzentsetzungen zu schaffen. Die individuellen Akzentsetzungen Hubers und Beethovens haben im Sinne Bernsteins insofern „priester[-lichen]“ Charakter, als sie das Evangelium, „die Lehre vollständig erhalten“ (Maleachi 2, 7; s. o.), weil sie anstelle der schlafenden Jünger oder des Verrats durch Judas einen Gesichtpunkt in den Mittelpunkt rücken, der gern übersehen oder gar vergessen wird und somit „die Lehre [un-]vollständig“ werden lässt: Passion und Transzendenz sind im Christentum untrennbar miteinander verwoben. Mit dem Tod Christi zerreißt nicht nur der Vorhang im Tempel, sondern Verstorbene „erschienen vielen“ (vgl. Matthäus 27, 51-53). Der erste Petrusbrief berichtet, dass Jesus nach dem Kreuzestod in die jenseitige Welt ging und Toten bis zur „Zeit Noahs“ predigte (1. Petrus 3, 18-20). Apostel Paulus weitet im Blick auf Karfreitag und Ostern die Perspektive ausdrücklich auf „Tote und Lebende“: „Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“ (Römer 14, 9) Vor diesem Hintergrund ist es nur zu konsequent, dass sich Jesus Christus im Kontext des Oratoriums unmittelbar vor dem Eintreffen der Legionäre ausdrücklich an die Verstorbenen wendet und die „Seligkeit“ ankündigt, die ihnen aus dem Tod auf Golgatha erwachsen wird (4. Teil des Oratoriums, Takte 11-22). Diese Botschaft an das Totenreich findet sich in den Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas nicht. (Das Johannesevangelium fasst sich noch kürzer, verknappt das Geschehen am Ölberg auf 11 Verse und beschränkt sich im Wesentlichen auf die Gefangennahme Jesu.) Dass Huber mit seiner freien Erweiterung der drei Synoptiker einen theologisch wichtigen Aspekt des Passionsgeschehens bewusst macht, ist ein Verdienst, das bei allen Verweisen auf die Leerstellen des Textes nicht vergessen werden sollte.

Ein weiterer Grund für die nicht gerade enthusiastische zeitgenössische Rezeption des Oratoriums liegt in der Interpretation des Protagonisten begründet. Es stieß in weiten Teilen des Publikums und der Presse auf Befremden, ja sogar auf durch verletzte religiöse Gefühle motivierten Widerstand, dass Jesus Christus nicht nur als Gottessohn, sondern auch als Mensch charakterlich gezeichnet wird, der Angst vor „den Qualen [hat], die […ihm] dräun“ (Erster Teil des Oratoriums, Takte 116-119 und 173-175). Da die Angst Jesu biblisch unmissverständlich bezeugt ist , wirkt der religiöse Eifer und die Empörung über den von Angst gequälten Gottessohn auf den heutigen Betrachter wenig glaubhaft und in gewisser Weise nur ‚vorgeschoben‘. Den eigentlichen Kern der Sache trifft Anja Mühlenweg, indem sie auf die Oratorientradition am Beginn des 19. Jahrhunderts verweist: „Mit der mehrfach dargestellten Angst vor Leid und Schmerz [wird] ein menschliches Bild von Jesus gezeichnet, das von der Vorstellung des erhabenen Gottessohnes stark abweicht und in der Oratorientradition der Zeit weder bekannt war noch akzeptiert wurde.“ Dieser radikale Bruch mit der Oratorientradition macht neben der „priester[-lichen]“ die „prophet[-ische]“ Dimension des „Christus am Ölberge“ deutlich. Die Charakterzeichnung Jesu stößt die Rezipienten des frühen 19. Jahrhunderts vor den Kopf, weil sie über ihre Zeit hinausweist und als „Brot“, als künstlerische Inspiration späterer Generationen verstanden werden darf: Noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist der traditionelle Held der epischen Literatur bzw. der Protagonist des Dramas klug, tatkräftig, unerschrocken etc. und dient dem Rezipienten als leuchtendes Vorbild; die schier übermenschliche Kraft des Helden löst alle Probleme. Zwischen 1830 und 1850 wird dieses Rollenbild in der deutschen Literatur brüchig. Die Helden zeigen Schwäche, erweisen sich als moderne Subjekte, die verflochten sind in Konstellationen, welche Angst und Frustration hervorrufen. Georg Büchners „Woyzeck“ (Fragment 1837), Friedrich Hebbels „Maria Magdalena“ (1843), das Personentableau in Jeremias Gotthelfs „Schwarz[-er] Spinne“ (1842) und andere literarische Figuren belegen diesen Paradigmenwechsel mit allem Nachdruck. Hubers von der zeitgenössischen Kritik so heftig gescholtene, vermeintlich ‚zu menschliche‘ Rollengestaltung des Christus ist nicht mehr und nicht weniger als eine „prophet[-ische]“ Vorwegnahme literaturgeschichtlicher Umbrüche, die sich erst Jahrzehnte nach 1803/1804 mit aller Macht vollziehen.

Der vielleicht größte Ausdruck dichterischer Freiheit besteht darin, dass die Figur des Seraph in den Oratorientext eingefügt wird. Das Lukasevangelium spricht zwar davon, dass Jesus „ein Engel vom Himmel [erschien] und [...] ihn [stärkte]“ (Lukas 22, 43), aber das ‚literarische Gewicht‘ des Huberschen Seraph übersteigt die dienend-stärkende Funktion des von Lukas erwähnten Engels bei weitem. Allein die Tatsache, dass der ‚gewöhnliche‘ Engel des Lukasevangeliums von Huber in den Rang eines Engelfürsten erhoben wird, spricht Bände und ist gewissermaßen dichterisches Programm: Die Seraphim genießen laut Jesaja 6, 1-7 das Privileg der unmittelbaren Gottesnähe, verkünden mit ihrem dreifachen Sanctus die „Heilig[-keit des …] Herr[-n] Zebaoth“ (Jesaja 6, 3) und erfüllen eine Botenrolle zwischen Gott und Jesaja (vgl. Jesaja 6, 6 und 7). Damit tut sich eine weitere „prophet[-ische]“ Dimension des „Christus am Ölberge“ auf, und zwar im doppelten Sinn des Wortes: Der Seraph öffnet im biblisch-ursprünglichen Sinn als Mittler zwischen Gott und Jesaja dem Propheten Augen und Lippen für die künftigen Aufgaben und initiiert damit prophetisches Tun. Die zweite Sinnebene ist im Bereich der Rezeptionsästhetik verortet: Der Seraph des Oratoriums ist sicherlich auch „the intermediary between Christ and God“ , aber darin erschöpft sich seine Rolle keineswegs. Der Seraph ist vor allem ‚the intermediary between oratorio and audience‘, indem er das Geschehen in den einzelnen Oratorienteilen ankündigt, kommentiert und gewisse Reaktionen vom Publikum erbittet. Die Zuhörerinnen und Zuhörer sollen vor innerer Anteilnahme „erzitt[-ern]“ (Zweiter Teil des Oratoriums, Takt 7), „des Erlösers Güte [… und] Huld [preisen]“ (ebenda, Takte 28-35, 45-50) etc. und letztlich ‚die Moral‘ der Handlung klar erkennen: „Merk‘ auf, o Mensch, und höre: […]“ (Sechster Teil des Oratoriums, Takte 69ff.) bzw. „O Menschenkinder fasset dies heilige Gebot: […]“ (ebenda, Takte 94ff.) So wie der ‚biblische Seraph‘ Jesaja die Augen für das zukünftige Wirken öffnet, so lenkt der ‚Hubersche Seraph‘ den Blick des Publikums auf bestimmte Schwerpunkte der Oratorienhandlung und verleiht damit dem Oratorium einen ausgeprägt deiktischen Charakter. Viele Jahrzehnte bevor sich in der deutschen Literaturgeschichte deiktische Dichtung im engeren Sinn des Wortes ausprägt (etwa mit Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ [1927-1929] oder mit Bertolt Brechts und Erwin Piscators epischem Theater ab den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts), finden sich also bei Huber in einer weiteren „prophet[-ischen]“ Vorwegnahme wesentliche Elemente späterer Epik und Dramatik. Diese ‚vorwegnehmend-neue‘ dramatische Kraft des Oratoriums war Beethoven offenbar sehr wichtig, denn er „selbst hat sich schließlich gegenüber Georg August Griesinger dahingehend geäußert, daß er etwas ganz anderes als Haydn mit seiner ‚Schöpfung‘ oder den ‚Jahreszeiten‘ (die die Definition des Gattungsbegriffs Oratorium für die ganze musikalische Epoche zu bestimmen schienen), daß er etwas Neues, ein dramatisches Oratorium schaffen wollte. Und so geschah es.“

Beethovens kompositorische Umsetzung

Dass es so geschehen konnte, ist in nicht unerheblichem Maße der Ausgestaltung des Orchesterparts zu verdanken, dessen mitreißende Wirkung Karl Friedrich Zelter im Jahr 1831 nach einer Aufführung des Oratoriums in Berlin geradezu enthusiastisch charakterisiert: „Das starke Orchester ist wie ein übervolles Herz, ein Puls übermenschlicher Gewalt; ich war ergriffen.“ In der Tat ist bereits die Introduktion ein ‚klingender Beweis‘ für Zelters Höreindrücke, zugleich aber auch für Beethovens bemerkenswerte Fähigkeit, motivisch-makrostrukturelle Klammerbildung mit „priester[-lich-]prophet[-ischer]“ Akzentsetzung zu verknüpfen:

Sicherlich ist Kraus zuzustimmen, wenn sie im Hinblick auf die Introduktion bemerkt: „Sie beginnt mit einem gebrochenen Es-Moll-Akkord der Hörner, Fagotte und Posaunen [Großschreibung des Grundtons der Molltonart bei Kraus], es folgt ein wehmütiges Thema der sordinierten Streicher, erst dann stimmen auch die hohen Bläser ein. Diese glänzend instrumentierte Einleitung, teilweise besetzt mit Alt-, Tenor- und Bassposaune und tief grollenden Gängen der Celli und Kontrabässe, mündet als großangelegter instrumentaler Klageruf direkt in den ‚ersten Auftritt des Helden‘ […]“ Gleichwohl ist die Introduktion weit mehr als ‚nur‘ ein „großangelegter instrumentaler Klageruf“, denn wenn man das „Thema der sordinierten Streicher“, die Stimmen der hohen Bläser und die „tief grollenden Gänge […] der Celli und Kontrabässe“ etwas genauer betrachtet, so fällt auf, wie feinsinnig Beethoven Themen entfaltet, Motive absplittert und letztere als werkumspannende Klammern verwendet: Das Thema der Streicher beginnt mit der aufsteigenden Mollterz und dem gebrochenen Sextakkord der Dominante B-dur (Takt 3), um in Takt 4 mit fünf sekundmelodisch abwärts gerichteten Tönen fortgesetzt zu werden. Dieses sekundmelodische Motiv erscheint in rhythmischer Diminution in den Stimmen der Holzbläser (Takte 19f., 25f. und 41f.) und als viertönige Absplitterung in den „tief grollenden Gängen der Celli und Kontrabässe“ (Takte 27ff. [Zählzeiten 5u, 6, 6u und 1 usw.] und 43ff.), um schließlich in nochmaliger rhythmischer Diminution im triumphalen Schlusschor der Engel gleichsam allgegenwärtig zu sein . Mit einem Wort: Die düstere es-moll-Stimmung des Anfangs „prophe[-zeit]“ motivisch bereits das strahlende C-dur des Schlusses, im geängstigten „Sie nahet schon, die Stunde meiner Leiden“ (ebenfalls eingeleitet durch das‘ 5-Ton-Motiv‘, diesmal in c-moll, vgl. Takt 58 der Nr. 1 des Oratoriums) schimmert schon die Heilsgewissheit der ‚Schlussworte‘ Jesu auf („Bald ist gänzlich überwunden und besiegt der Hölle Macht.“ Vgl. die Takte 256-259 der Nr. 6 des Oratoriums; wie ein ‚Todesstoß‘ gegen die Macht der Hölle ‚sticht‘ das Zweiunddreißigstel-Motiv der ersten Geigen in das Nomen „Macht“ hinein.). Mit dieser Interpretation des Ölbergsgeschehens als Vorwegnahme des de facto erst auf Golgatha errungenen Sieges Christi erweist sich Beethoven 1803/1804 als kompositorischer „Priester und Prophet“ einer theologischen Position, die beispielsweise Rudolf Brockhaus (1856-1932) im Jahr 1903 mit folgenden Worten umreißt: „Sobald er [Jesus] völlig versichert ist, dass es der Wille des Vaters war, den Kelch zu trinken, ist alles für ihn entschieden. […] Es war jetzt alles eine Sache zwischen ihm und seinem Vater. Sein Gehorsam ist ruhig und vollkommen. Welch ein unaussprechlicher Sieg! […] Satan war jetzt ein besiegter, ohnmächtiger Feind.“

Wenn weiter oben darauf hingewiesen wurde, dass der Text des Oratoriums verdienstvollerweise den Zusammenhang zwischen Passion und Transzendenz in den Blick rückt bzw. zu Gehör bringt (s. o.: S. 3f.), so gebührt Beethovens Vertonung dieser Reverenz gegenüber den Verstorbenen eine nicht minder große Aufmerksamkeit. Dass der Komponist die Christuspartie ganz im Gegensatz zu früherer Tradition nicht einem Bass, sondern einem Tenor anvertraut, ist in den Kommentaren zu dem Oratorium immer wieder angemerkt worden. So einzig- und neuartig wie die Besetzung der Titelrolle ist auch das ‚Transzendenz-Rezitativ‘ als solches (Vierter Teil des Oratoriums, Takte 1-22). Als erstes und einziges Stück in der Folge der Rezitative, Arien und Chöre steht es in F-dur und klingt – um es bildhaft auszudrücken – schon aufgrund der Tonartendisposition ‚wie aus einer anderen Welt‘. Die ‚in das Jenseits hineintastenden‘ „colla-parte“-Terztremoli der Violinen (Takte 14f.) begegnen nirgendwo sonst in der gesamten Partitur und markieren somit ein weiteres kompositorisches Alleinstellungsmerkmal. Während die orchestralen Einwürfe in den anderen Rezitativen des Oratoriums additiv-vielgestaltig sind und den Wechsel der Gefühlslagen und der situativen Kontexte schlaglichtartig-pointenreich ausgestalten, ist die Christus-Botschaft in das Totenreich eingebettet in eine Ritornellform. Dreimal erklingt in den Tonarten F-dur, B-dur und G-dur ein viertaktiges Streicher-Ritornell (beim letzten Mal [Takte 16f.] auf zwei Takte verkürzt) und lässt die gewichtigen Jesuworte gleichsam nachklingen. Dass in der Dreizahl die Hypostasen der Trinität Gottes aufschimmern, die sich ihrerseits auf der Basis der drei Sakramente Wassertaufe, Abendmahl und Geistestaufe durch die drei Kardinaltugenden Glaube, Liebe und Hoffnung erschließen, darf zumindest als These formuliert werden. Aufhorchen lässt die Verbindung der Ritornell-Sechzehntel (Takte 1, 3, 8, 10 und 16) mit demselben Motiv in der großen Arie des Seraphs (Zweiter Teil des Oratoriums, Takte 23-297). Im Larghetto-Teil der Arie vertont dieses Motiv den Preis des „Erlöser[-s]“ in seiner Huld und Güte (Takte 30 und 47-49). Indem sich Christus gleichsam mit den ‚musikalischen Insignien‘ des Erlösers an die Verstorbenen wendet, wird das Pfand eingelöst, welches Jesus auf dem Berg der Verklärung Mose und Elia als Repräsentanten des Totenreichs in die Hand gab. Bereits bei der Verklärung redet Christus mit Mose und Elia „von seinem Ende, das er in Jerusalem erfüllen sollte“ (Lukas 9, 31). Die transfiguratio Domini erhält also eine entscheidende Prägung durch das Versprechen des Erlöser-Todes am Kreuz. Dass Beethoven das Ölbergsgeschehen als Vorwegnahme des erlösenden Sieges auf Golgatha ausgestaltet (s. o.) und dabei das ‚Erlöser-Motiv‘ aus dem zweiten Teil des Oratoriums in die Botschaft an das Totenreich hineinleuchten lässt, ist ein nachdrücklicher Beleg dafür, dass eine (der wenigen positiven!) zeitgenössischen Rezensionen nur zu Recht hat, wenn sie notiert: „Ein so kräftiger, vielumfassender, in seiner Kunst tiefsinniger Geist, ein so warmes, reizbares, lebensvolles Herz, wie Beethovens, konnte nun keine, auch der geringeren Andeutungen des Dichters unbeachtet lassen; und wir sehen den Componisten auch wirklich durch das ganze Werk alles, wozu jener auch nur einen leichten Fingerzeig gab, auffassen, und lebendig und wahr darstellen.“

Diese „lebendig[-e] und wahr[-e] Darstell[-ung]“ wird besonders offenkundig, wenn Beethoven den Gottessohn als Mensch mit allen seinen Nöten, „als Heldentenor im Zwiespalt zwischen göttlichem Auftrag und menschlicher Angst“ in das musikalische Geschehen einführt. Diese biblisch-theologisch zwar völlig legitime, aber von der zeitgenössischen Rezeption vor dem Hintergrund der Oratorientradition weitgehend abgelehnte Interpretation der Christus-Rolle (s. o.: S. 4) ‚ruft‘ förmlich nach einer nuancenreichen kompositorischen Psychologisierung. Wenn der Heldentenor Jesus nicht mehr ‚nur‘ der „Held aus Davids Stamm“ ist , sondern als der von den Jüngern verlassene, „auf sein Angesicht [! …] nieder[-fallende]“ (Matthäus 26, 29), „zu Boden [ge-]drückt[-e … und von] Bangigkeit […und] Todesangst […] zusammen[-ge-]schraubt[-e]“ Beter in Erscheinung tritt (Erster Teil des Oratoriums, Takte 91f. und 96-99), so darf man gespannt darauf sein, wie „ein so warmes, reizbares, lebensvolles Herz, wie Beethovens“ (s. o.) musikalisch auf die literarische Vorlage antwortet. Zu Recht merkt Kraus an, dass Beethoven Christus als wahren Gott und wahren Mensch „mit allen Mitteln (z. B. expressiver Chromatik) musikalisch interpretiert“ . Wenn man den Blick auf die Chromatik ergänzt durch den Blick auf Harmonik, Motivik und musikalisch-rhetorische Topoi, so entsteht ein vollständigeres Bild. Um den Rahmen dieses Textes nicht zu sprengen, wird nachstehend nur der erste Teil des Oratoriums etwas eingehender beleuchtet.

Nachdem Jesus seinen Vater mit den Tönen des Dominantseptakkordes von c-moll erstmals im Gebet angerufen hat (Erster Teil des Oratoriums, Takte 55-57), blickt er – wiederum eine bemerkenswerte freie Einfügung Hubers! – zurück auf sein Sein vor allem Sein, „noch eh‘ die Welt auf [… Gottes] Geheiß dem Chaos sich entwand“ (Takte 62-64), als er vor aller Zeit seinem freien Willen Ausdruck verleiht, „Vermittler“ (Takt 83) zwischen Gott und den (noch gar nicht erschaffenen!) Menschen zu sein. Hier zeigt sich Jesus als wahrer Gott, in dessen innerer Wirklichkeit die Schranken von Zeit, Raum und Erdgebundenheit keine Rolle spielen, der als „großer Herr und starker König“ am Thron seines Vaters wirkt und waltet. Entsprechend ‚gebieterisch‘ und erhaben entfalten die beiden „Maestoso“-Einschübe (Takte 68-72 und 77-81) ihre raumgreifende Wirkung als im umfassendsten Sinn des Wortes repräsentative ‚Königsmusik‘ aus einer unvorstellbaren, himmlischen Welt. Mit dem Trugschluss der Takte 91f. ändert sich die Szenerie grundlegend. Jesus zeigt sich als geängstigter Mensch, der dem Vater im Himmel sein Leid klagt. Hier kommt die von Kraus beispielhaft genannte Chromatik ins Spiel, und zwar in Gestalt der chromatisch abwärts gerichteten Seufzer-Motive der Takte 95, 100 und 103 (nur in Takt 102 findet sich eine große Sekunde abwärts). Die ‚klagende Wirkung‘ des Seufzer-Topos wird sprachlich verstärkt, indem der Seufzer das imperativische, um Mitgefühl flehende Verb „sieh!“ und die elativische, das beispiellose Unmaß der Leiden betonende Partikel „sehr“ vertont. Zu der sprachlichen Verstärkung tritt die harmonische: Der erste Ton des Seufzers ist stets als ‚spannungsgeladener‘ Vorhalt angelegt, so dass die von Kraus erwähnte Spannung „zwischen göttlichem Auftrag und menschlicher Angst“ förmlich ‚ins Ohr springt‘ (Takt 95: Quartvorhalt des Dominantseptakkordes über As; Takt 100: Quartvorhalt des verkürzten Dominantseptnonenakkordes über G; Takt 102: Nonenvorhalt des c-moll-Sextakkordes; Takt 103: Quartvorhalt des verkürzten Dominantseptnonenakkordes über A). Bei der Verwendung der Seufzer-Motivik steht Beethoven durchaus in der Tradition der musikalisch-rhetorischen Topoi. Das Gleiche gilt für die geradezu augenmusikalisch-bildhafte melodische Abwärtsbewegung bei der Vertonung der Worte „Blut herab“ (Takte 142-144, 191f. [hier zusätzlich intensiviert durch die fallende verminderte Septime] und 195-197) sowie für die abwärts gerichtete Septime bei der Vertonung des Nomens „Qualen“ (Takte 174 und 176). Gänzlich anders wirkt der Schluss- und Gipfelpunkt des ersten Oratorienteils mit dem chromatisch auskomponierten Kernbegriff „Leidenskelch“ (Takte 230ff.): Über Jahrhunderte hinweg war der passus duriusculus mit seiner ausdrucksstarken Chromatik abwärts ein häufig verwendetes kompositorisches Mittel, wenn es darum ging, Schmerz, Leid und Trauer in Töne zu fassen. Beethoven bricht mit dieser Tradition und verkehrt sie geradezu in ihr Gegenteil, indem er in Takt 231 das vollendet, was sich bereits in Takt 161 andeutet. In intensiver, aufwärts gerichteter Chromatik besingt Jesus den „Leidenskelch“, und auch die „al piacere della voce“-Kadenz bestärkt diesen Bruch mit der tonal abwärts gerichteten Leidenssymbolik. Der den Anfangsseptakkord von c-moll übersteigernde Dominantseptnonenakkord wird vom Solisten in so exponierter und stringenter Form nach oben ausfiguriert, dass der abschließende ‚Nonenseufzer‘ as‘-g‘ weniger einer Klage Ausdruck verleiht als einer immens starken, auf unerschütterlichem Gottvertrauen gegründeten Hoffnung. Die aufwärts gerichtete Chromatik unterstreicht das Bild des im Gebet zum Vater aufschauenden Gottessohnes. Aus diesem Aufschauen erwächst trotz aller Angst innere Sicherheit, und es bestätigt sich das, was bereits weiter oben im Hinblick auf die Introduktion gesagt wurde: Die nach oben gerichtete Chromatik des Leidenskelches „prophe[-zeit]“ bereits, dass Jesus im Leiden die Oberhand über die Macht des Bösen behalten wird. Der in seiner Angst als „wahrer Mensch“ auftretende Jesus erhebt sich aufgrund der feinsinnigen kompositorischen Zeichnung durch Beethoven zu einer Größe, die derjenigen des „wahren Gottes“ in nichts nachsteht, und es versteht sich von selbst, dass es dieser Größe keinen Abbruch tut, wenn Christus an späterer Stelle im Duett bzw. Terzett mit dem Seraph und mit Petrus zu hören ist. Der ‚Beethovensche Jesus‘ wirkt so präsent, authentisch und überzeugend, dass es eben nicht „das gröbste Versehen [ist], welches begangen werden könnte [, …] wenn […] Jesus und Petrus mit einander förmlich conversieren“ . Dieses vom Johannesevangelium bezeugte (Kapitel 18, Verse 10f.) und von Beethoven vertonte Handeln Jesu ist vielmehr die Konsequenz eines souveränen göttlichen Waltens, welches zum Ziel hat, mitten „unter uns [zu wohnen]“ (Johannes 1, 14).

„Die Partien des Seraph und des Chores der Engel werden von Beethoven lyrisch gestaltet, erfahren jedoch beispielsweise bei der Textstelle ‚Verdammung ist ihr Los‘ eine deutliche Eintrübung durch Häufung von Dissonanzen“ , mit diesen Worten umreißt Kraus den Charakter des Seraph und des Chores der Engel. Einmal abgesehen von der Frage, ob man tatsächlich auch den zweiten, nicht mehr in weiten Teilen dem Dialog mit der Solistin verpflichteten Chor der Engel (den monumental-triumphalen Schlusschor „Welten singen Lob und Ehre“) mit dem Begriffspaar „lyrisch/stellenweise von Dissonanzen eingetrübt“ angemessen beschreiben kann, sind auch Zweifel im Hinblick auf den Seraph angebracht. Wie oben gesehen, ist der Seraph auf literarischer Ebene ein Indikator für die ausgesprochen deiktischen Elemente des Oratoriums. Wenn Judith Roßbach zu Recht dem gesamten Oratorium das Zeugnis ausstellt: „Die Kontraste sind höchst wirkungsvoll dargestellt, die Musik versetzt den Hörer in die gegensätzlichen Empfindungen von Angst, Schrecken, Zorn und Jubel“ , so ist erst recht die ‚literarische Instanz‘, die dieses ‚Gefühlskaleidoskop‘ ankündigt, kommentiert und das Publikum zu entsprechenden Reaktionen auffordert (s. o.: S. 5), durch eine solche Fülle von emotionalen Schattierungen gekennzeichnet, dass sich die auf ein Begriffspaar reduzierte Charakterisierung von Kraus als unzulänglich erweist. Einige wenige ‚Farbflächen‘ des seraphinischen Kaleidoskops seien mit Roßbach exemplarisch angesprochen (wiederum – um den Rahmen des Textes nicht zu sprengen – beschränkt auf einen einzigen, den zweiten Teil des Oratoriums).

Angst und Schrecken: Am Beginn des zweiten Oratorienteils ist Huber ein sachlicher Fehler unterlaufen. Jesus betet im Garten Gethsemane zwar „tief in Staub gedrückt“, ist aber nicht „vom Vater ganz verlassen“ (vgl. die Takte 11-13), sondern von den schlafenden Jüngern (vgl. Matthäus 26, 40-45). Erst am Kreuz schreit Jesus laut: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27, 46) Die Schwäche des Textes wird musikalisch mehr als ausgeglichen. Die vom Seraph besungene „unnennbare Qual“ des „Verlassen“-Seins (vgl. die Takte 12f.) und die damit verbundene schreckliche Angst hat Beethoven in harmonisch außergewöhnlicher Weise vertont. Nach dem Fis-dur-Sekundakkord des Taktes 12 müsste ‚normalerweise‘, also den Empfehlungen der Harmonielehre zufolge ein Sextakkord in H-dur stehen. Beethoven ist jedoch kein ‚normaler‘ Komponist und verwendet stattdessen den zum gis-moll des Taktes 14 zwischendominantischen Dis-dur-Septakkord, der von der Solistin durch die fermatisierte None intensiviert wird (Takt 13). Dis-dur ist eine äußerst seltene Tonleiter, wird im Quintenzirkel gar nicht benannt und kann somit im gewissen Sinn als eine ‚unnennbare‘ Tonart verstanden werden. Geistreicher und treffender kann man die „unnennbare“ Qual des Gottessohnes, die Angst und den Schrecken am Ölberg nicht in Töne fassen.

Zorn und Jubel: Wie sehr eine Solopartie und ein Chorsatz einander ergänzen und sich gegenseitig inspirieren können, lässt sich vorzüglich an der musikalischen Darstellung von Zorn und Jubel aufzeigen. Mit der Virtuosität einer Koloraturarie besingt die Seraph-Solistin die Seligkeit der Kinder Gottes und „jub[-iliert]“ geradezu schwerelos über den im pianissimo gehaltenen Tonika- und Dominantakkorden des Chores das Glück der Christen in die Welt hinaus und dem Himmel entgegen (Takte 200-204). Dieser Jubel erfährt eine weitere Steigerung durch die Modulation von G-dur über g-moll und den zwischendominantischen Terzquart- bzw. Dominantseptakkord nach Es-dur (Takte 204 und 205), wobei der Seraph die Septime as‘‘ in den Raum stellt und auf diese Weise den lang angehaltenen Spitzenton g‘‘ der voraufgegangenen Koloratur nochmals überhöht. Nach dieser Inkarnation des Jubels fällt dem Chor die dramaturgisch immens wachrüttelnde Aufgabe zu, dem Zorn Gottes im zum Teil dreifachen forte Ausdruck zu verleihen. In geradezu eruptiver Weise bricht für 58 Takte ein ‚musikalisches Strafgericht‘ über die Szenerie herein (Takte 205-206), welches alle widergöttlichen Kräfte förmlich in Grund und Boden reißt. Hier findet sich der in der großen Christus-Arie des ersten Oratorienteils nach oben umgekehrte passus duriusculus in seiner Originalgestalt: In unerbittlicher chromatischer Abwärtsbewegung zieht „der Fluch des Richters“ das Böse nach unten und seiner Niederlage entgegen (vgl. den Alt, Tenor und Bass der Takte 214-220). Das Thema der zweiten Chorfuge (Takte 220-244) mutet musikalisch an wie ein freier Fall in die Tiefe. Da der Ambitus der menschlichen Stimme nun einmal begrenzt ist, muss Beethoven an zwei Stellen aufwärtsgerichtete kleine Septimen einfügen (Takte 222f.). Denkt man die Linien jedoch in den durch die kleinen Septimen aufwärts vermiedenen großen Sekunden abwärts weiter, so ergibt sich beispielsweise im Bass der Takte 220-224 nach der fallenden Terz b-g eine sekundmelodische ‚Fallbewegung‘ bis hinab zum Kontra-G. Da sich die Stimmeneinsätze förmlich überstürzen, entsteht das Klangbild eines vernichtenden Strudels, dessen gewaltigem Sog sich nichts und niemand entziehen kann. Wie der sprichwörtliche Sonnenschein nach dem Sturm sorgt der Seraph (getragen durch den jetzt wieder im pianissimo singenden Chor) nach diesem aufwühlenden Zornes-Intermezzo für einen grundlegenden Stimmungswechsel. Mit dem Solopart und der in Sextolen und Achteln wirkungsvoll ‚mitjubelnden‘ Flötenstimme kehren am Schluss des zweiten Oratorienteils dieselbe solistische Virtuosität (vgl. besonders die Seraph-Kadenz in Takt 288!) und dieselbe Heilsgewissheit zurück wie vor dem dramatischen Zwischenteil. Wenn Apostel Paulus im Römerbrief dazu auffordert: „Darum sieh die Güte und den Ernst Gottes […]“ (Römer 11, 22), so ist der Schluss des zweiten Oratorienteils ein ‚musikalischer Augenöffner‘ für diesen zwar ‚unbequemen‘, aber dennoch unverrückbaren Kerngedanken des Evangeliums. Es liegt ein großer Trost in der Tatsache, dass sowohl am Ende des zweiten Teils als auch am Ende des gesamten Oratoriums die in Christus personifizierte Güte Gottes das letzte Wort behält. Dies mit Worten und Tönen unermüdlich zu verkündigen, hat der „Priester und Prophet“ Beethoven offenbar als eine Lebensaufgabe verstanden, denn im August 1823, also rund dreieinhalb Jahre vor seinem Tod, bekennt er gegenüber seinem Mäzen und Schüler Erzherzog Rudolph von Österreich:

„Höheres gibt es nichts, als Gott sich mehr als andere Menschen zu nähern, um von hier aus die Strahlen Gottes unter den Menschen zu verbreiten.“

Programm 2018/2019:

  1. David Hermann Engel (1816-1877): Gott ist die Liebe (CB 326)
  2. Charles Homer Gabriel (1856-1932): Ich sinke still und anbetend vor Jesum, dem König, hin (CB 236)
  3. Ludwig van Beethoven (1770-1827): Christus am Ölberge, op. 85